Massimo Rao - Animula vagula blandula
02.10.2004 bis 09.01.2005
Massimo Rao, 1950 in San Salvatore Telesino, Provinz Benevento, in der Campania geboren, war nur ein kurzes Leben vergönnt. Noch jung an Jahren erlag er 1996 der Übermacht seiner Krankheit. Ganze zwei Dezennien umspannt sein künstlerisches Schaffen. Das ist nicht viel für die Begründung eines Werkes, das in jeder Hinsicht ausserhalb jeder aktuellen Zeitströmung steht und zugleich ein Mass an künstlerischer Qualität verkörpert, wie es in der neueren Kunst selten geworden ist. In der Tat, Massimo Rao ist ein singulärer Fall. Was sein Werk heute so überaus rar und kostbar macht, ist nicht nur die sichtbare Vollendung der Form, die sich aus der souveränen Beherrschung der Mittel ergibt, sondern das Wesen dieser oft düster-melancholischen, empfindungsmächtigen Bildwelt selbst. Wie kaum ein anderer vermochte Rao in die Urgründe seines Ichs vorzudringen, in die verborgene Welt seiner innersten Sehnsüchte und Hoffnungen, seiner Obsessionen und unausgesprochenen Ängste.
Seine Bilder sind Embleme sublimierter Empfindsamkeit. Ihre Sprache ist gefühlsbetont, monologisch und von
ausgeprägt meditativer Innerlichkeit. In emotional-vergeistigten Metaphern des Menschlichen, das so fragil und
verletzlich wirkt, hat Massimo Rao das Antlitz seiner Seele geschaut. Animula vagula blandula, wie es in dem
berühmten, der Überlieferung nach auf dem Sterbebett verfassten Vers des Kaisers Hadrian in der Engelsburg
heisst. Die Seele des Künstlers, so feinsinnig, sehnsuchtsvoll und zart, beschreibt das magische Zentrum dieser Bildwelt, die so sehr beherrscht ist von Einsamkeit, Elegie und romantischen Stimmungen. Das Klima dieser Bilder ist ernst, tragisch, ja von geradezu asketischer Einkehr; ihr Sinngehalt indes geht weit über die Grenzen subjektiver Selbstdurchdringung hinaus. Im Bilde des Menschen, Raos Inkarnation der Seele, scheint hier Welt auf, Schicksal und metaphysische Bestimmung, die in der Entsagung alles Irdischen letztlich auf das Wesen des Menschen selbst zurückführt.
Das Geistige dieser Malerei wie ihr emotionaler Gehalt manifestieren sich vorzüglich im Bild des Menschen, einer
introvertierten, seelisch entrückten, melancholisch-leptosomen Gestalt mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und
manieriert verkrampfter Körpergebärde, gehüllt in wuchernde Faltenwürfe oder bauschige Gewänder. Ihr Geschlecht ist oft schwer auszumachen, sie wirken feminin und maskulin zugleich, mal erscheinen sie hermaphroditisch, mal androgyn. Sie verharren hinter steinernen Brüstungen, vor Kerkermauern, in labyrin-
thischen Nekropolen und Katakomben, auf düsteren Felseninseln bei nächtlichem Gewitter, vor Weltlandschaften von unendlicher Weite und Bitternis. Dantes Lasciate ogni speranza könnte über vielen der Bilder stehen. Statt dessen aber findet sich öfter die lapidare Inschrift LUNA, in den Boden oder die Wand gemeisselt in filigraner altrömischer Kapitale. Überhaupt spielt der Mond als Leitmotiv eine herausragende Rolle in dieser mystischen Bilderwelt. Ihr unterliegt eine ganz eigene, subjektive Ikonographie, die nicht leicht zu erschliessen ist.
Ein weiteres Merkmal der Einzigartigkeit dieser Kunst ist die mit sicherem Gespür für Form- und Farbzusam-
menhänge gebrauchte altmeisterliche Technik. Der Farbauftrag erscheint transparent, bisweilen gar immateriell,
ja transzendent, ist jedoch das Ergebnis eines höchst virtuos gehandhabten, zeichnerisch dominierten alla-prima-Verfahrens, einer Mischung aus Eitempera, Öl und Pastell, gelegentlich unterlegt mit einem partiell durchscheinenden Goldgrund, wobei der malerische wie zeichnerische Duktus weitgehend dem Auge sichtbar
bleibt. In der Sicherheit der spontan vorgetragenen Ausführung, die dem Gegenstand der Darstellung adäquat
erscheint, erweist sich Massimo Rao als ein wahrhaft überragender Maler und Zeichner, ein Meister, wie ihn das
ausgehende 20. Jahrhundert nur selten hervorgebracht hat.